Überschlagend klettern vs. Blockvorstieg

Überschlagend klettern oder Blockvorstieg - welcher taktische Ansatz ist sinnvoller für lange Routen? In diesem Beitrag geht es um diese Fragestellung und es gibt eine klare Empfehlung von meiner Seite.

Sicherungstechnik bei Mehrseillängenrouten: Überschlagend klettern vs. Blockvorstieg

Vielleicht habt ihr auch schon mitbekommen, dass dieses Thema mitunter hitzig diskutiert wird. Aber ist die Relevanz wirklich so hoch? Spielen nicht andere Punkte eine viel größere Rolle? Natürlich ist es wichtiger, auf einem guten Niveau zu klettern, keine elementaren Sicherungsfehler zu begehen und ein gewisses Gespür für die Berge mitzubringen – das sollte klar sein. Auf dem Weg zum Ziel können aber auch Feinheiten durchaus entscheidend sein.

Don Quixote, Marmolada Südwand: Je größer die Tour, desto wichtiger die Taktik. Foto: Fritz Miller
Don Quixote, Marmolada Südwand: Je größer die Tour, desto wichtiger die Taktik. Foto: Fritz Miller

Ein paar Begriffe (und was damit gemeint ist)

Bevor wir uns dem Kern des Themas nähern, werfen wir einen kurzen Blick auf die Begrifflichkeiten. Da manche deutschsprachigen Begriffe recht sperrig sind – man denke nur ans „Mehrseillängenklettern“ – verwende ich hier und da lieber englische Begriffe.

Die beiden Begriffe, um die es primär geht:

  • Überschlagend(es) Klettern (engl. Swapping Leads/Swinging Leads) bedeutet, dass Vor- und Nachsteiger nach jeder Seillänge wechseln.
  • Blockvorstieg (engl. Leading in Blocks/Block Leading) bedeutet, dass ein Vorsteiger einen Lead Block – also mehrere Seillängen – führt, und dann der Kletterpartner übernimmt – bzw. einer der Kletterpartner, denn diese Taktik funktioniert genauso auch in einer 3er-Seilschaft.

Und noch zwei Begriffe, die ebenfalls relevant sind:

  1. Permanente Führung: Ein Vorsteiger übernimmt den Vorstieg der gesamten Route. Eine permanente Führung findet aber auch innerhalb eines Lead Blocks statt, weshalb dieser Begriff hier immer wieder auftaucht.
  2. Wechselführung: Dieser Begriff wird meist als Synonym für überschlagendes Klettern verwendet. Für mich bedeutet er allerdings lediglich, dass es sich um keine permanente Führung handelt. „Wechselführung“ verstehe ich als Überbegriff für überschlagendes Klettern wie auch das Klettern in Lead Blocks.

Der klassische Ansatz: überschlagend klettern

Schauen wir uns zunächst das überschlagende Klettern an. Es ist der klassische Ansatz für Zweierseilschaften und immer noch Standard für die meisten Alpinkletterer. Es erleichtert das Seilhandling und sorgt dafür, dass beide Kletterpartner einen ähnlichen Beitrag leisten müssen (in manchen Seilschaften spielt das eine große Rolle). Wenn in langen, anspruchsvollen Routen allerdings Schnelligkeit und Effizienz gefragt sind, ist überschlagendes Klettern kein guter Ansatz. Davon bin ich überzeugt und ich werde versuchen, es zu erklären.

Gegenüberstellung der beiden Taktiken

Um das Ganze zu strukturieren, unterteile ich die Argumentation in folgende Themen:

  • Kraft
  • Fokus
  • Kälte
  • Standplatzbau
  • Lesen der nächsten Seillänge
  • Seilhandling am Standplatz
  • Materialorganisation am Standplatz
  • Umbau der Sicherung.

Kraft: Stellt euch eine lange Seillänge in einer senkrechten Wand vor, die ihr als Nachsteiger klettert. Eine pumpige Leiste nach der anderen, der Rucksack zieht zusätzlich nach unten. Irgendwann ist der Stand erreicht und die Unterarme brauchen dringend eine Pause. Beim klettern in Lead Blocks bekommt ihr sie, beim überschlagenden Klettern geht's hingegen direkt weiter in die nächste Länge.

Pumpig, nicht nur für den Vorsteiger. Foto: Fritz Miller
Pumpig, nicht nur für den Vorsteiger. Foto: Fritz Miller

Fokus: Im alpinen Gelände klettert man im Vorstieg anders als im Nachstieg. Es gilt, den richtigen Weg zu finden, Entscheidungen zur Absicherung zu treffen, die Seilführung zu managen, darauf zu achten, keine Steine zu lösen, die den Partner treffen könnten. Vor allem aber so zu klettern, dass man nicht stürzt, wenn man nicht stürzen darf. Am Stand angekommen, geht die Arbeit weiter: Beispielsweise verlangt der Standplatzbau in Trad-Routen volle Konzentration. Klettern im Vorstiegs-Modus verlangt einen hohen Fokus, während man sich als Nachsteiger etwas zurücknehmen und derweil mental regenerieren kann. Für mich ist klar: Ständige Wechsel zwischen Vor- und Nachstieg sind auf Dauer mit einem erhöhten mentalen Verschleiß verbunden, u. a. weil man immer wieder umdenken muss und so schlechter in seine Rolle hineinfindet.

Kälte: Nicht immer aber doch recht häufig hat man es beim Alpinklettern mit Kälte zu tun – selbst im warmen Sarcatal, wenn die Wände am Nachmittag im Schatten liegen und Wind aufkommt. Gehen wir einmal davon aus, dass dem Vorsteiger warm wird, während er eine anstrengende Seillänge klettert. Nun gilt es, am Stand nicht allzu sehr auszukühlen. Weitere Kleidung ist meist nicht verfügbar, weil im Rucksack des Nachsteigers. Aber wenn der Nachsteiger Gas gibt, stehen die Chancen ganz gut, dass der Vorsteiger warm bleibt. Nun entscheiden sich die Dinge, je nach dem, wer die nächste Länge vorsteigt. Beim überschlagenden Klettern hängt man viel länger am Stand (und kühlt eher aus), bei permanenter Führung innerhalb eines Lead Blocks weniger lang (und bleibt eher warm).

Ein kalter Tag am Monte Brento, Sarcatal. Foto: Fritz Miller
Ein kalter Tag am Monte Brento, Sarcatal. Foto: Fritz Miller

Standplatzbau: Der Standplatzbau mittels Kletterseil wird immer wieder als Argument fürs überschlagende Klettern genannt. Natürlich sollte der Standplatzbau mittels Kletterseil beherrscht werden und es gibt Situationen, da kommt man kaum darum herum – man denke beispielsweise an einen großen Felsblock, über den keine der mitgeführten Bandschlingen passt. Dies reicht als Argument fürs überschlagende Klettern aber noch lange nicht aus. Schließlich ergeben sich beim Standplatzbau mit dem Kletterseil eine Reihe massiver Nachteile, weshalb man diesen Ansatz nicht als Standardlösung betrachten sollte.

Lesen der nächsten Seillänge: Während der Vorsteiger seinen Kletterpartner nachsichert, hat er etwas Zeit, um sich den Weiterweg anzusehen und diesen zu planen. Wo geht es hin, wie sieht es mit der Absicherung aus, welche klettertechnischen Ansätze könnten gefragt sein. In welche Abschnitte lässt sich die Seillänge einteilen? Gibt es Rastpunkte? Besondere Gefahren? Wie würde ein Sturz aussehen? Man kann auch noch weiter ins Detail gehen und im Geiste schon einmal ein paar Meter klettern. All diese Informationen und Erkenntnisse sind sehr hilfreich für den Vorstieg der nächsten Länge. Gut also, wenn derjenige vorsteigt, der sie gewinnen konnte.

Seilhandling am Standplatz: Ja, das Seilhandling ist beim überschlagenden Klettern einfacher. In vielen Fällen spielt es aber keine große Rolle. Befindet sich der Stand an einem Absatz oder auf einem Band, lege ich das Seil einfach ab. In einer Wand mit wenig Strukturen, an denen sich das Seil verhaken könnte, hänge ich es in großen Schlaufen an den Stand. Diese beiden Varianten funktionieren nahezu gleich gut auch bei permanenter Führung innerhalb eines Lead Blocks.

Legt man das Seil in Schlaufen über die Selbstsicherung, was durchaus sinnvoll sein kann, so hat man bei der permanenten Führung den Nachteil, dass das Seil dem Kletterpartner übergeben werden muss. Um den berüchtigten „Seilsalat“ zu vermeiden, sollte das Seil Schlaufe für Schlaufe übergeben und in neuen Schlaufen über die Selbstsicherung des Kletterpartners gelegt werden. Das braucht etwas Zeit und steht dem schnellen Klettern im Wege. Allerdings: Im leichten Gelände kann man das Seil fast immer einfach ablegen. Im schwierigen Gelände dauert der Vorstieg einer Länge wahrscheinlich eh etwas länger und die Seilübergabe fällt vergleichsweise weniger ins Gewicht.

Das Seil hängt in großen Schlaufen am Stand, da ein Verhaken am Fels nicht zu befürchten ist. Foto: Fritz Miller
Das Seil hängt in großen Schlaufen am Stand, da ein Verhaken am Fels nicht zu befürchten ist. Foto: Fritz Miller

Materialorganisation am Standplatz: Erreicht der Nachsteiger den Stand, hat er typischerweise einiges an Material eingesammelt und somit wahrscheinlich mehr Hardware am Gurt als der Vorsteiger. Macht es dann nicht Sinn, dass er gleich in den Vorstieg übergeht, wenn er eh schon „das ganze Material“ am Gurt hat?

Dazu ein paar Gedanken:

  1. Was ist mit jenen Seillängen, in denen der Vorsteiger nur wenig Material eingesetzt hat und somit am Stand noch das meiste am Gurt hat?
  2. Wenn der Nachsteiger mit jeder Menge Material am Stand ankommt: Könnte er beim überschlagenden Klettern dann wirklich gleich weiter oder sollten nicht erst Exen, Keile, Cams usw. sortiert und entsprechend den Anforderungen der nächsten Seillänge am Gurt angeordnet werden?
  3. Wie läuft das beim überschlagenden Klettern mit dem Rucksack und den Bandschlingen, die über der Schulter (und dem Rucksack) getragen werden?
  4. Falls man nur einen Klemmkeilentferner dabei hat: Denkt man immer daran, ihn zu tauschen?
  5. Falls ein Hammer mitgeführt wird, inkl. Halterung am Gurt: Wie läuft das dann?
Vinatzer-Messner, Marmolada Südwand: keine schlechte Idee, Hammer und Haken mitzuführen. Foto: Fritz Miller
Vinatzer-Messner, Marmolada Südwand: keine schlechte Idee, Hammer und Haken mitzuführen. Foto: Fritz Miller

Umbau der Sicherung von Nachstieg auf Vorstieg: Dieser letzte Punkt wird gerne genannt, wenn die vermeintlichen Vorteile des überschlagenden Kletterns aufgezählt werden. Und ja: Sichert man Vor- und Nachstieg mit der Halbmastwurfsicherung am Fixpunkt oder Zentralpunkt oder wendet die Körpersicherung mit Plus-Clip an, dann muss die Sicherung theoretisch nicht umgebaut werden. Allerdings ist das Nachsichern mittels Halbmastwurfsicherung nur selten sinnvoll und die Relevanz der Plus-Clip-Variante geht aus meiner Sicht in Richtung null. Daraus folgt: Selbst beim überschlagenden Klettern wird man die Sicherung umbauen – typischerweise von der Plate (Nachstieg) auf Tube oder HMS (für den Vorstieg). Und: Der ganze Vorgang kann während des Nachsicherns vorbereitet werden und dauert dann nur wenige Sekunden!

Überzeugt?

Wie auch immer: probiert es aus, gebt der Sache eine Chance. Das Umstellen gewohnter Abläufe mag eine Hürde darstellen, aber allzu groß sollte sie nicht sein. Schließlich wird das Schema vom Klettern in der Dreierseilschaft oder dem Klettern mit einem weniger starken oder weniger erfahrenen Partner bekannt sein.

Und nicht vergessen: Alpinklettern erfordert mit Blick auf die angewandten Techniken und Taktiken eine hohe Flexibilität. Starre Regeln sind weniger hilfreich, ein solides Fundament an Wissen und Können umso mehr. Und Mitdenken ist immer eine gute Idee!

Nach einer Begehng des Salbit Westgrats am Gipfel. Foto: Fritz Miller
Nach einer Begehng des Salbit Westgrats am Gipfel. Foto: Fritz Miller

Achtung!

Alpinklettern ist gefährlich! Alle Anleitungen, Beschreibungen und Empfehlungen in diesem Beitrag erfolgen selbstverständlich nach bestem Wissen und Gewissen. Jeder Anwender muss für sich entscheiden, welche Techniken er überblicken und verantworten kann. Der Autor kann nicht haftbar gemacht werden für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den Informationen dieses Beitrags resultieren.

Text: Fritz Miller 11/2024